Mittwoch, 25. März 2015

Eines Tages...

Ich bin also heute nach Patabamba gelaufen. Ich habe den Lehrer dort bisher noch nicht angetroffen, er musste immer früher weg, wegen „Besprechungen“. Er bleibt aber auch ohne Ausrede gerne mal zu Hause.
Ich kenne den Weg gut, ich bin ihn schon unzählige Male gegangen. Da ich jetzt in Oropesa wohne muss ich zwar ein bisschen länger laufen aber das ist egal, denn es ist gutes Wetter, die Sonne scheint, es ist warm und ich gerate bald ins schwitzen. Selbst den Hunden ist es zu warm, um mir hinterher zu kläffen, sie liegen im Schatten und wenn sie könnten, würden sie wohl auch schwitzen. Die Straße ist staubig, doch links und rechts von mir liegen grüne Felder und saftiges Gras und am Straßenrand wachsen gelbe Blüten. Der Nachhall des Regens. All dies erzeugt in meiner Nase einen wohligen Geruch und die Luft, die zu flimmern scheint, gibt mir das Gefühl von Sommer. Zwischen zwei Masten hängt ein Kabel bis auf den Boden herab und summt verheißungsvoll und von der Straße höre ich entfernt die gewohnt Mischung aus Hupen und Vorbeisausen. Mein Handy ist seit einigen Tagen kaputt, und so laufe ich ohne Musik.
Später dann höre ich nur noch die Vögel und ab und an ein Flugzeug über mir, die Straße habe ich unter mir zurück gelassen. Der Anstieg der die erste halbe Stunde meines Weges ausmacht macht sich bemerkbar und nun schwitze ich richtig, doch es macht mir nichts aus, ich genieße es das Brennen der Sonne auf meiner Haut, die Luft in meinen Lungen und mein Herz pumpen zu fühlen. Weit und breit ist niemand zu sehen, ich wandere den Berg hinauf, nur verschwommen erkenne ich manchmal den gebeugten Umriss eines Menschen der in den Maisfeldern am Berghang arbeitet. Nur einmal kommt mir ein Pferd entgegen, ohne Reiter und ohne Seile um den Mund die hier das Zaumzeug sind. Es kommt mir gelassen entgegen und läuft entspannt an mir vorbei und als ich mich umdrehe sehe ich es ein genüsslich an den gelben Blüten knabbern.
Eine gute Stunde nachdem ich los gelaufen bin, komme ich an meinem üblichen Rastplatz an, einem kleinen Bach, der an der Außenseite einer Wegwende entlang plätschert. Ich setzte mich, ziehe meinen Rucksack aus und genieße die Wärme der Sonne. Erst jetzt bemerke ich dass da ein Mann sitzt, ein bisschen oberhalb und abseits des Weges. Hinter ihm ein Motorrad.
Nach einiger Zeit nähert sich mir der Mann. Ich denke mir nichts dabei. Er will bestimmt nur wissen was ein Gringo auf dem Weg nach Patabamba macht. Das kommt öfter vor.
Er ist jetzt bei mir angekommen, setzt sich auf die andere Seite des Bächleins hin, keinen Meter von mir entfernt. Er ist nicht alt, Mitte bis Ende zwanzig, hat eine Cap auf, trägt Jeans und eine an den Ärmeln zerfranste grünbraune Stoffjacke. Sein Gesicht ist glattrasiert und sein Hautton ist der typisch bronzebraune der Hochanden. Er sitzt mir gegenüber ein bisschen seitlich, die Fuße auf dem Gras die Knie nach oben angewinkelt, den Oberkörper gerade aufgesetzt ohne sich mit den Armen nach hinten ab zu stützen oder die Hände auf die Knie zu legen.
Ich breche das Schweigen mit einem freundlichen „Buenos Dias“, das er erwidert und wir beginnen zu plaudern. Das übliche : Wer ich sei, woher ich komme, was ich hier mache, ob es denn nicht gefährlich sei wenn ich alleine hier entlang wandere. Ich antworte ausgiebig und drücke ihm eine unserer Karten in die Hand und erzähle ihm von unsrer NGO hier, Qapaq Sonqo, was soviel bedeutet wie „großes Herz“. Ich erkläre ihm, dass ich ein Freiwilliger aus Deutschland sei und hier im Süden von Cusco und gerade in ärmeren Teilen der Region, wie in Patabamba, Englisch unterrichte. Daraufhin meinte er, dass meine Bezahlung wohl gut sein müsste, da es wohl sehr schwer wäre in Orten wie Patabamba zu unterrichten und dass wir wohl auf viele Probleme stoßen müssten. Als ich ihm erklärte dass wir keine Bezahlung im eigentlichen Sinne erhielten war er ein bisschen entgeistert und ich klärte ihn darüber auf, dass, entgegen der landläufigen Meinung der Einheimischen, nicht alle Gringos die in Peru sind eine Menge Geld haben. Dabei zeigte ich ihm lachend meinen leeren Geldbeutel der gerade mal 4 Sol enthielt.
Zwischenzeitlich waren Wolken auf gekommen und es fing langsam an zu zu ziehen.
Ich kam darauf zu sprechen was er hier mache, so mitten im Nirgendwo, denn Patabamba kannte er nicht. Er stand auf und zeigte mit dem Arm in eine Richtung hinter sich ein Stück den Berg runter und meinte er habe dort einige Felder. Er fing an zu erzählen, dass er früher beim Militär gearbeitet hatte, mit Maschinen wie er mir nach einem kurzen Zögern erzählte, nun aber dort fertig sei und diese Gegend hier verlassen wolle. Er fragte mich wie viel wohl ein Flug nach Deutschland kosten würde und ob er dort arbeiten könne. Es sei doch sehr schön in Deutschland höre man immer.
Er setzte sich wieder, schaute mich aber nicht an, sondern in die Ferne und erzählte mir dann von seinem Leben beim Militär. Dabei war sein Gesicht manchmal Ausdruckslos und manchmal nahm es gequälte Züge an. Ich verstand nicht alles, da er manchmal sehr schnell und manchmal eher leise redete und mir nur selten ins Gesicht schaute, doch ich meine verstanden zu haben, dass er an Razzien teil genommen habe und dort viel erlebt hat. Einmal hätten sie ein Bordell hoch genommen und dort sehr viel Geld gefunden.
Da mir das Thema ein bisschen unangenehm wurde, da er selbst von seiner Erzählung sehr gefangen genommen war, fragte ich ihn nach der Uhrzeit, denn mein Handy ist ja kaputt und wer mich kennt weiß, dass ich nie eine Uhr trage. Er antwortete mir, scheinbar ein bisschen verwirrt und gleichzeitig mit einem spöttischen Funkeln im Gesicht: „Kurz vor elf.“
Nachdem er seine Arbeit aufgegeben hat, so erzählte er mir, sei er von den Schergen des Bordellbesitzers verfolgt worden und sie hätten zuerst seinen Freund und dann ihn eines Nachts erwischt und wollten wissen, wo all das Geld sei. Doch er hatte es natürlich nicht. Dabei schaute Er mich zum ersten Mal seit langem wieder an und grinste. Dann hätten sie ihn zusammen geschlagen und er zeigt mir, mit untypischer Offenheit, eine Narbe am Schienbein, wo scheinbar der Knochen ausgetreten sei und drei horizontale Narben unterhalb des Solarplexus die von Messer stammen könnten.
Sein Gesichtsausdruck war irgendwo zwischen dem Wunsch zu erzählen und Stolz wegen der Narben.
Seitdem ginge er nur noch nachts aus dem Haus und deshalb fahre er tagsüber auch gern mit seinem Motorrad an abgelegene Orte. Und seitdem ist er auch immer bewaffnet, sagt er und greift mit der Hand hinter sich und holte einen Revolver hervor; er greift ihn mit dem „Finger lang am Abzug“ und richtet ihn nach Vorne sodass die Mündung, wenn auch nur ganz kurz, auf mich gerichtet ist.
In einem Sekundenbruchteil zieht vor meinem Inneren Auge nochmal das Vorbei was ich über Entwaffnung gelernt habe.
 Arme mit sensenartiger Bewegung von außen nach innen. Recht Hand vorne an den Lauf, linke hinten flach mit Wucht ins Handgelenk. Oberkörper aus dem Schussfeld zur Seite neigen. Er ist weniger als einen Meter entfernt, gute Chancen aus zu weichen.
Er lacht kurz bellend auf, mein Gesicht muss wohl kurz versteinert sein und sagt, dass ich keine Angst zu haben brauche, nur für den Fall der Fälle und dass er schon einmal auf zwei (scheinbare) Verfolger geschossen hätte.
Wir plaudern noch eine Weile und verabschieden uns dann. Auf die Frage nach seinem Namen antwortete er ohne mich an zu schauen nach einem kurzen Zögern: „Juan.“
„Juan?“, wiederholte ich fragend. Er nickte.
„Mucho Gusto.“
Mit diesen letzten Worten wende ich mich ab und setzte meinen Aufstieg fort.
„Juan.“ Juans gibt es hier wie Sand am Meer. Wieso hat er sich nicht gleich Max Mustermann genannt.

Als ich einige Zeit später in Patabamba ankomme ist die große blaue Tür der Schule von außen mit dem offenen Schloss verhangen und als ich eintrete blicken mir nur Kühe vom Schulhof entgegen. Und angesichts der unzähligen Kuhfladen die herum liegen, kann ich mir kaum vorstellen, dass die Schule in letzter Zeit von jemand anderem als den Kühen genutzt worden ist. Es ist niemand da.
Eine ungefähr 5-jährige kommt mir auf meinem Weg aus dem Dorf entgegen, die Schafe vor sich her treibend, ihr kleines Geschwisterchen auf dem Rücken und sagte die Worte die ich inzwischen zu hassen gelernt hatte: „Profe no ha venido.“ Der Lehrer ist nicht gekommen.

Auf dem Rückweg ist Juan weg, ich laufe schweigsam den Berg hinunter. Nur einige Bauern die auf den Feldern gearbeitet hatten und jetzt zusammen Bier trinken rufen mir hinterher: „Gringo, trinkst du ein Bier mit uns?“, „Wo willst du hin?“, „Du musst in die andere Richtung!“

Nein Danke, murmel ich und weiß immer noch nicht was ich von all dem hier halten soll.
Viel ist passiert seit meiner letzten Meldung, ich fang einfach mal von Vorne an:

Im November waren Sintje, Rosi, Nils, Jonas und ich ein Wochenende am Titikakasee. Wir sind morgens um 5 bei einer  Lufttemperatur nahe dem Gefrierpunkt angekommen und haben gleich für halb 8 eine 2 Tägige Tour gebucht. Wir hatten richtig Glück und hatten dann das ganze Wochenende schönes Wetter. Die Tour, bei der wir 2 Tage über den See gefahren sind und auf einer der beiden Inseln im peruanischen Gebiet übernachtet haben, war ein echter Volltreffer. Unser Guide war der beste den wir bisher hatten und hat uns mit Fakten, Anmerkungen und Anekdoten versorgt. Am ersten Tag besuchten wir die schwimmenden Schilfinseln der Uros, einem Volk das seit Jahrhunderten autonom auf Inseln aus Schilf auf dem See leben und sich auch zum Großteil von diesem ernähren. Die erstaunlichste der Fähigkeiten der Uros ist jene, die miteinander verwachsenen Schilfstücke von bis zu 6m² zu Inseln zusammen zu bauen auf denen fünf oder sechs Familien leben können. Diese schwimmenden Inseln sind allerdings (leider) sehr touristische geworden und der Besuch auf einer solchen Insel war nicht sehr nach meinem Geschmack da ich das Gefühl hatte zu sehr in die privatsphäre der Menschen ein zu dringen. Gegen Nachmittag kamen wir dann auf der Insel Taquile an, auf der wir bei einer Gastfamilie geschlafen haben. Dort stehen auch Sonnen- und Mond/Pachamama- und Pachatatatempel. Wobei die spirituelle Ideologie hinter diesen Tempeln wirklich faszinierend sind und ein detailliertes Bild vom Verständnis der Welt geben. Später mehr dazu.
Am zweiten Tag waren wir auf Amanati, einer Insel die für ihre strikten sozialen Regeln und ihre hervorragende Weberei bekannt ist. Jedes volljährige Mitglied der Inselgemeinschaft zeigt seinen sozialen Status durch seine Kopfbedeckung die in Eigenarbeit hergestellt wird. Außerdem herrscht auf der Insel ein erstaunlich „fortgeschrittenes“ Beziehungssystem bei dem ein junges Paar nach einiger Zeit des Zusammenlebens entscheiden kann ob es dies weiterhin will oder lieber getrennter Wege geht. Dies wird von allen Insulanern unterstützt ohne, dass die jungen Menschen danach von der Gemeinschaft ausgeschlossen werden. So etwas ist hier in Peru, gerade in einem kleinen Dorf oder einer so abgeschiedenen Gemeinschaft wie der auf einer Insel geradezu revolutionär aber andererseits auch notwendig, denn in in früheren Zeiten hatten die Insulanern kaum Kontakt zum Festland und mussten daher jeden Bewohner der Insel in ihre Gemeinschaft integrieren und konnten es sich nicht leisten eine Parallelgemeinschaft aus jungen Ausgestoßenen zu erschaffen.

Noch erwähnenswert ist vielleicht, dass der Titikakasee nicht der höchstgelegene See der Welt ist, sondern nur Nummer Zwei. Außerdem ist er schweinekalt und es ist nicht sehr empfehlenswert in ihm schwimmen zu gehen da man nach gefühlt 2 Minuten an Hypothermie leidet und die Muskeln sich verkrampfen um man ertrinkt. Es war aber ein sehr tolles Wochenende, auch wenn wir nach einer Nachtfahrt ohne Schlaf am Montag morgen Zuhause ankamen und Zwei Stunden später schon zum Unterricht mussten.